Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Unabhängigkeit

Kapitel 3.a. Oberperu: die Aufstände von Chuquisaca und La Paz

Noch 1808 hatte die Junta den gebürtigen Peruaner José Manuel Goyeneche nach Amerika geschickt, um dort deren Interessen zu vertreten. Bei einem Zwischenaufenthalt in Rio de Janeiro hatte ihm Ende August die portugiesische Prinzessin Carlota Joaquina einen Brief mitgegeben, indem die Schwester von Ferdinand die Abdankung ihres Vaters Carlos IV. nicht anerkannte und die Südamerikaner zum Widerstand gegen die Franzosen aufforderte (Zitat aus dem Brief). Gleichzeitig schlug sie sich als Wahrerin der Interessen ihrer Familie in Spanisch-Amerika vor. Goyeneche erfüllte insofern ihre Bitte, als er den Brief den höheren Beamten in Montevideo, wo sich im September die erste Junta in Amerika bildete, Buenos Aires, und als er auf den Landweg über Oberperu in seine peruanische Heimat reiste, auch dem Gerichtspräsidenten in Chuquisaca (auch Chacras, heute Sucre) überreichte.

Ramón Garcia Leon y Pizarro, der Gerichtspräsident, und der Erzbischof Benito Maria Moxo y de Francoli berieten gut einem Monat mit Goyeneche bevor dieser kurz vor dem Jahreswechsel nach Peru weiterreiste. Sowohl Pizarro als auch Moxo anerkannten die Junta, aber ersterer liebäugelte auch damit, der Bitte Carlota Joaquinas zu entsprechen. Da jedoch die Stimmung in der Bevölkerung nicht gerade brasilienfreundlich war, erhoffte er sich eine Lösung von den Professoren der damals angesehenen Universität. So übergab er das Schriftstück an die Professoren, die am 12. Januar 1809 eine Erwiderung formulierten, in der sie der Prinzessin jedes Recht absprechen sich in die Angelegenheiten der Spanier zu mischen. (Zitate aus der Erwiderung)

Die Veröffentlichung der Antwort der Hochschullehrer sorgte in der Stadt für erhebliche Unruhe, die durch die Nachricht eines gescheiterten Aufstands in Buenos Aires am 01. Januar noch gesteigert wurde. Pamphlete gegen die Intervention der Portugiesen und die Haltung des Gerichtspräsidenten in dieser Frage verschärften die Spannungen derart, daß der Vorsitzende der Professorenkommission, Manuel Zudañez, vor dem Stadtrat am 16. Mai den Antrag einbrachte, Pizarro seines Amtes zu entheben. Der Vorschlag erhielt eine breite Zustimmung, aber die Umsetzung verzögerte sich, sodaß Pizarro am 20. noch ungehindert den Gouverneur von Potosi, Francisco de Paula Sanz, per Brief um militärische Hilfe bitten konnte. Aufgrund weiterer Warnungen am 25. ließ Pizarro die Rädelsführer auf die Fahndungsliste setzen, aber außer dem Bruder von Zudañez, Jaime, hatten diese sich bereits abgesetzt.

Die Verhaftung löste öffentliche Proteste aus, und Juan Antonio Alvarez de Arenales, ein Beamter aus einer Gemeinde etwa 50 Kilometer südlich der heutigen Landeshauptstadt, führte seine Milizen, die vor den Toren Chuquisacas gewartet hatten, in die Stadt. Dreimal verweigerte Pizarro den Rücktritt, bis die aufgebrachte Menge um drei Uhr nachts den Regierungspalast stürmte. Erst jetzt trat Pizarro zurück, um Blutvergießen zu vermeiden. Mit ihrem Staatsstreich hatten die Patrioten die Regierung übernommen. Sie stellten weitere Milizverbände auf, regelten die Verwaltung neu und forderten die anderen Provinzhauptstädte zur Nachahmung auf.

Anfang Juli forderte der Vizekönig in Buenos Aires der Provinzgouverneur Sanz auf, Pizarro militärisch beizustehen, aber der Königliche Gerichtshof, den inzwischen die Separatisten kontrollierten, verlangte von ihn, auf die Anordnungen des neuen Vizekönigs von La Plata zu warten, der in diesem Monat seine Amtsgeschäfte aufnahm.

Inzwischen hatten die Gesandten der Patrioten landesweit für die Adaption der Verhältnisse in Chuquisaca gesorgt, mit Ausnahme von Potosí, wo Sanz nicht bereit war, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Lediglich in La Paz brauchte man einen zweiten Anlauf, obwohl der dortige Gouverneur dem Wechsel der Regierungsform nicht ablehnend gegenüberstand. Die deutliche Aufforderung zum Umsturz und nicht zur Spanientreue zeigt die Proklamtion aus Chuquisaca (Zitat).

Am 16. Juli setzten die Separatisten unter Pedro Domingo Murillo, Juan Pedro de Indaburu, Mariano Graneros und Melchor Jimenez ihre in nächtlichen Treffen verabredeten Maßnahmen zum Sturz der Regierung um. Nachdem die beiden letztgenannten die Stimmung bei den in La Paz stationierten Kolonialtruppen auskundschaftet hatten, führte Indaburu seine Milizen nach Einbruch der Dunkelheit an die Kaserne und eroberte diese. Ohne ihre Militärmacht konnten die spanischen Beamten ihrer Ämter enthoben und arretiert werden. Dem bekannt royalistischen Bischof Remigio de la Santa y Ortega legte der Stadtrat nahe seine Amtsgeschäfte ruhen zu lassen, und vier Tage später war er auf dem Weg in die Yungas, einer Bergwaldregion östlich von La Paz. Noch in der gleichen Nacht entlud sich der über Jahre angestaute Volkszorn mit Plünderungen und Morden an Spaniern in der Stadt.

In den folgenden Tagen wurde der Plan für eine neue Regierung geschmiedet, die in einer offenen Ratssitzung am 24. Juli umgesetzt wurde. Der „Wächterrat des Königs und des Volkes“, dem Murillo vorstand, leitete von nun an die Verwaltung in La Paz. Man entsandte Vertreter, die nun auch die ländlichen Gemeinden einbeziehen sollten. Lokal war man erfolgreich, aber an anderen Orten hielt sich sicher auch aus Angst vor spanischen Vergeltungsmaßnahmen die alte Ordnung.

In Potosi bereitete der Gouverneur den Weg für die Rückkehr der Spanier, indem er seine Truppen von Kreolen in den Offiziersrängen säuberte, und sich an den peruanischen Vizekönig José Fernando Abascal y Sousa mit der Bitte um Unterstützung wandte. Dieser, aufgeschreckt durch die von Sanz gegebene Begründung, daß der Aufstand auch auf die südlichen Provinzen Perus übergreifen könne, schickte Goyeneche, der inzwischen als Präsident des Königlichen Gerichtshofs in Cusco fungierte, mit den Truppen der drei Grenzprovinzen Arequipa, Puno und Cusco, rund fünftausend Soldaten, nach Oberperu. Nach dem Grenzübertritt am 21. September unterstellte sich Goyeneche dem Vizekönig von La Plata, da er sich auf dessen Territorium befand.

Balthasar Hidalgo de Cisneros, der Vizekönig, hatte seinerseits noch im Juli einen neuen Gerichtspräsidenten für Chuquisaca, Vicente Nieto, eingesetzt, der mit seinem Stellvertreter José Cordoba y Roxas und einem knapp fünfhundert Mann starken Heer von Buenos Aires nach Oberperu unterwegs war.

Die unzureichend ausgerüsteten Patrioten von La Paz hatten dem nicht viel entgegenzusetzen. Daher kam es ab Ende Oktober zu Aufständen gegen die Patriotenregierung, die sie jedoch ersticken konnte. Der schwerwiegendste Fall der Meuterei fand am 10. Oktober statt, als Indaburu, der militärischen Stellvertreter von Murillo die zurückgebliebene Wachkompanie führte. Er ließ seinen Chef und andere Regierungsmitglieder verhaften und konnte am folgenden Tag noch die Hinrichtung eines Ratsmitglieds durchführen lassen, bevor ihn die Patrioten von El Alto, nördlich über La Paz, besiegen konnten und Murillo wieder in sein Amt eingesetzt wurde.

Wahrend das riesige Heer von Goyeneche anrückte, hatte Murillo die über 5000 Meter hohen Schneeberge von Chacaltaya, etwa 30 Kilometer nördlich von La Paz, für seine tausend Soldaten befestigen lassen und der Bezwinger von Indaburu, José Gabriel Castro, hatte beim Angriff Goyeneches am 25. Oktober das Kommando. Aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit und ihrer besseren Ausbildung, gelang es den Spaniern schnell, die Patrioten zu zerstreuen. Danach zogen sie zum Teil nach La Paz ein, zum Teil verfolgten sie die Separatisten.

Viele der Patrioten setzten sich in die Yungas ab. Hier hatte der Bischof de la Santa seit seiner Ankunft nichts unversucht gelassen, die Patrioten zu sabotieren. Die Rädelsführer hatte er schon vorher exkommuniziert, als am 11. Oktober eine Abordnung aus la Paz erschien, die den Patrioten am Anden-Ostabhang nahelegte, die Waffen niederzulegen. Victorio Garcia Lanza, der die Patrioten dort kommandierte, wäre bereit gewesen, für die Annullierung seiner Exkommunikation aufzugeben, aber Moxo war dazu nicht bereit, und so griff der ältere Bruder des später bekannt gewordenen Guerillaführers Miguel, Irupana, rund 90 Kilometer östlich von La Paz, an, da der Bischof seinen Sitz auf Einladung des königstreuen Bürgermeisters dorthin verlegt hatte. Der Angriff, der an dem Tag der Niederlage von Chacaltaya erfolgte, wurde von den vom Bischof fanatisierten Royalisten zurückgeschlagen.

Nachdem die Überlebenden von Chacaltaya zu den Milizen von Lanza gestoßen waren, kamen im November auch die Abteilungen der Spanier, die auch in den Yungas ihre Ordnung wiederherzustellen gedachten und die übriggebliebenen „Rebellen“ zu bestrafen. Unweit Irupana, am Chicaloma, wurden sie endgültig zerschlagen. Tage später fielen den nachsetzenden Spaniern auch die Anführer, die sich nach der Schlacht nicht ergeben hatten, in die Hände und wurden sofort geköpft. Wie in der Kolonialzeit üblich, wurden die Köpfe in verschieden Orten zur Abschreckung öffentlich ausgestellt. Von den 86 Angeklagten in La Paz wurden einzig wegen Bestechungsgeldern nur zwölf zum Tode verurteilt und im Januar und Februar des folgenden Jahres hingerichtet, die anderen erhielten lange Haftstrafen und wurden enteignet. De la Santa kehrte ebenfalls nach La Paz zurück und übernahm wieder uneingeschränkt die Leitung der Kirche. Er beschuldigte Patrioten, seine Amtsführung behindert zu haben.

Inzwischen war auch der neue Gerichtspräsident für Chuquisaca, Nieto, in Oberperu eingetroffen. Er ging zuerst nach Potosi, wo er sich Mitte Dezember aufhielt. Seine Truppen zogen bald danach widerstandslos in Chuqisaca ein, und er folgte am 24. Dezember. Nieto übernahm sein Amt, löste die Milizen der Patrioten auf und eröffnete Prozesse gegen die Aufrührer. Im Gegensatz zu Goyeneche, fällte er jedoch keine Todesurteile. Manuel Zudañez verstarb allerdings im folgenden Jahr in Haft.

Angesichts der Geschehnisse in La Paz und Chuquisaca endeten auch die lokalen Bemühungen um Unabhängigkeit in anderen Landesteilen Oberperus abrupt. Der erste Versuch die Unabhängigkeit zu erreichen, scheiterte an den Spaniern, aber bei vielen war der Wille ungebrochen, es erneut zu versuchen, sobald sich dazu eine neue Gelegenheit ergab. Bis sie in der zweiten Hälfte des folgenden Jahres kam, hatten die Spanier ihre Kolonie allerdings wieder fest im Griff.



Fortsetzung: Kap. 3.b. Ecuador: der Aufstand von Quito



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