Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Unabhängigkeit

Kapitel 4.a. Venezuela: Von Caracas in die Provinzen

Im vergangenen Jahr 1809 hatte Ende Mai ein neuer Generalkapitän, Vicente Emparan y Orbe, die Leitung der Kolonie übernommen. Der Baske, der schon vorher Führungsaufgaben in Puerto Cabello und Cumana innegehabt hatte, war bereits zu dieser Zeit immer wieder mit den anderen kolonialen Institutionen in Venezuela wegen seiner liberalen Haltung den Südamerikanern gegenüber aneinandergeraten. Diese Haltung hatte er als Generalkapitän nicht verändert. Obwohl er zu der jüngeren Elite, die nach Unabhängigkeit strebte, und vor allem zu dem dabei recht profilierten Simon Bolivar ein wohlwollendes Verhältnis pflegte, hatte er in diesem Jahr mit zwei Umsturzversuchen zu kämpfen, die er allerdings noch im Keim ersticken konnte. Zum Jahreswechsel 1810 mußte er sich auch gegen zwei Verschwörungen in den eigenen Reihen zur Wehr setzen.

Die Aufbringung eines spanischen Schiffes durch einen französischen Freibeuter im März 1810 vor der venezolanischen Küste erzeugte in Caracas eine erhebliche Unruhe, die durch das Eintreffen neuer Nachrichten aus Spanien, wo die Oberste Junta in den Regentschaftsrat übergegangen war, noch verstärkt wurde. Die Patrioten, die bereits bei dem Zwischenfall auf See ihre Chance, endlich loszuschlagen, gesehen hatten, waren nun endgültig zum Handeln entschlossen. Da man Bolivar, der damals noch keine siebenundzwanzig Jahre zählte, wegen seiner mangelnden Erfahrung keine Führungsposition anvertrauen wollte, wurde Francisco Rodriguez, der Herzog von Toro, zum Anführer gewählt.

Die Konspiration in der Casa de Misericordia (etwa Diakonie) am 02. April, die aufgeflogen war, ahndete Emparan milde mit Verbannung, ohne Prozesse gegen die Beteiligten zu eröffnen. Aber er forderte die notorischen Unruhestifter um Bolivar in der Zeitung auf, die Stadt einstweilen zu verlassen. Da die jungen Männer der Aufforderung nachkamen, befanden diese sich zweieinhalb Wochen später, als der Aufstand losbrach, nicht in der Stadt.

In der Nacht von 17. auf den 18. April trafen die drei von Regentschaftsrat entsandten Regionalkommissare ein, die in Neugranada, Ecuador und Oberperu für die Bildung von Juntas gegen die Herrschaft Napoleons sorgen sollten. José Cos de Iriberri, der für Oberperu zuständig war, verstarb auf der Reise, aber die beiden Ecuadorianer Carlos Montufar (der Sohn von Juan Pio, vgl. 3.b.), der in seiner Heimat wirken sollte, und Antonio Villavicencio erreichten ihre Bestimmungsorte. Die drei hatten ein brisantes Schriftstück des Regentschaftsrats im Gepäck, das den Südamerikanern die Gleichstellung und Selbstbestimmtheit zusicherte. Emparan kündigte am 18. zwar öffentlich positive Umwälzungen an, aber den Text zu veröffentlichen, unterließ er wegen der angespannten Lage in der Hauptstadt.

An diesem Tag trafen sich unterschiedliche Gruppierungen der Patrioten, um ihr weiteres Vorgehen zu beraten, und auf den Straßen Stimmung für die Befreiung zu machen. Der folgende 19. April, heute venezolanischer Nationalfeiertag, erschien ihnen wegen seiner großen religiösen Bedeutung als Gründonnerstag als die ideale Gelegenheit, um der ungeliebten Kolonialverwaltung den Garaus zu machen. Die kreolischen Amtsträger, wie beispielsweise der Bürgermeister, standen auf der Seite der Patrioten, und die Spanier, auch wenn sie nicht unbedingt begeistert waren, äußerten keinen entschiedenen Protest, sodaß die Separatisten ihren Putsch in Ruhe vorbereiten konnten. Zu dieser Vorbereitung zählte auch, daß der Oberst der Milizen, Francisco Rodriguez, Herzog von Toro, und sein Bruder Fernando, der gerade den Posten des Generalinspekteurs von Venezuela bekleidete, die Offiziere auf den Umsturz einschwören konnten. Emparan, der rechtzeitig von den Plänen informiert wurde, unternahm nichts, um den Aufstand zu verhindern.

Morgens um acht Uhr holten zwei Stadträte Emparan zu einer außerordentlichen Ratsversammlung ab, die eigentlich nur er hätte verfügen können. In der einstündigen Debatte widersetzte sich der Generalkapitän der Bildung einer Regierungsjunta, da er keine Notwendigkeit dafür erkennen konnte. Gegen neun Uhr brach er die Aussprache ab, um an der Festtagszeremonie in der Kirche teilzunehmen. Auf dem Weg über den zwischen Sitzungsort und Kathedrale liegenden Platz, hielt ihn jedoch das protestierende Volk auf, und die Patrioten sorgten dafür, daß die zum Schutz Emparans hier stationierten Wachen nicht eingriffen.

Zurück im Versammlungsaal, wurde noch mehrere Stunden argumentiert, und Emparan ließ eine Reihe von Funktionsträgern, die zum Teil von Milizen vorgeführt wurden, gegen die Juntabildung sprechen, und die Meinung der Kirche wurde berücksichtigt, aber letztlich stand der Generalkapitän nur noch vor der Frage, ob er der Junta vorstehen wolle, oder völlig entmachtet würde. Emparan trat daraufhin auf den Balkon, um sich die Meinung der Menge auf dem Platz einzuholen. Da diese nach kurzem Zögern artikulierte, ihn nicht mehr zu akzeptieren, trat er von seinem Amt zurück und war fortan nicht mehr an den Entscheidungsprozessen in Venezuela beteiligt.

Eine provisorische Regierungsjunta wurde noch am gleichen Tag errichtet. Die spanischen Amtsträger wurden ihrer Funktionen enthoben und mußten im Hafen La Guaira auf ihre Ausreise warten. Das Sitzungsprotokoll wurde, ebenfalls am selben Tag, von Ausrufern in der Stadt bekannt gemacht. Über ihr gesamtes Handeln hatten die Patrioten ihre Treue zu Ferdinand VII. und das Wohl des Volkes gestellt. Gleichwohl richtete die neue Regierung eine offizielle Verlautbarung an die Minister der Königlichen Haziendaverwaltung im einzig befestigten Hafen des Landes, Puerto Cabello, worin sie anordnete, ihr die Mittel in den Kassen zur Verfügung zu stellen (Indien-Archiv Bd. 2, No. 2030). Das bedeutet, daß die Junta beschlossen hatte, Ferdinands VII. Geld selbst zu verwalten, obwohl sie wußte, daß in Spanien jeder Peso für den Krieg gegen die napoleonischen Truppen dringend gebraucht wurde. Das war, ohne öffentliche Erklärung, ein gewaltiger Schritt in Richtung Unabhängigkeit.

Fünf Tage später, am 24., konstituierte sich die „Oberste Junta zur Wahrung der Rechte von Ferdinand VII. in Venezuela“ und übernahm die Amtsgeschäfte. Neben der Neuordnung der Verwaltung und der Finanzen, die nun nicht mehr nach Spanien abgeführt wurden, forderte die Junta zur Nachahmung ihres Staatsstreichs aus Provinz- und Gemeindeebene auf. Die durch das aufgehobene spanische Handelsmonopol profitierenden Geschäftsleute spendeten großzügig für die neue Regierung, da sie – zu Recht – beträchtliche Gewinne erwarteten.

In den meisten Städten der Provinz Caracas fanden sich genügend entschlossene Patrioten, um dort ebenfalls die spanischen Autoritäten zu entmachten und sich der Junta der Hauptstadt anzuschließen, zumal diese Vertreter geschickt hatten, die die Geschehnisse vom 19. April bekanntmachten. Massiven und fortdauernden Widerstand gab es jedoch in Coro. Begünstigt dadurch, daß sich Provinz Maracaibo im Westen angrenzend, entschieden gegen die neue Regierung aussprach, entstand hier ein Unruheherd, der nach langen, aber letztlich fruchtlosen brieflichen Auseinandersetzungen mit gegenseitigen Vorwürfen zum ersten Feldzug am Jahresende führte.

Der Herzog von Toro führte seine 1600 Soldaten und 10 Geschütze Ende Oktober nach Siquisique, rund 90 Kilometer südlich von Coro, wo er sie in drei Gruppen einteilte. Am 01. November begann sein Marsch auf Coro, wobei er die erste Gruppe unter Luis Santinelli nach Pedregal, circa 55 km südwestlich von Coro, und die zweite unter Miguel Ustariz nach San Luis, etwa 25 km südlich von Coro schickte. Er selbst blieb bei der dritten, der Reserve. Der royalistische Gouverneur von Maracaibo, Fernando Miyares hatte in Kenntnis des Zuges des Herzogs Truppen zur Unterstützung Coros entsandt, die sich von Westen näherten.

Am 04. kam es zu einem ersten Vorhutgefecht bei Aguanegra, rund 70 Kilometer südsüdöstlich von Coro, das die Patrioten für sich entscheiden konnten. Der Herzog setzte seine Abteilungen am 07. Marsch und folgte, bei der Reserve, dem Zug von Santinelli. Diesem gelang es, die Verteidiger von Pedregal mit kleinen Gefechten im Umland am 14. aus dem Ort zu verdrängen. Ustariz hatte weniger Glück, denn als er von lokalen Verstärkungen, die von Westen her vorrückten erfuhr, brach er seine Bemühungen San Luis zu nehmen ab. Der Herzog beorderte daraufhin diese Gruppe zurück zu seiner Reserve. Santinelli verfolgte die fliehenden Verteidiger Pedregals Richtung Nordwesten, wo er sie bei Aribanaches am folgenden Tag erneut schlug. Die Royalisten zogen sich nun nach Osten, auf Coro zu, zurück.

Rodriguez del Toro schloß in den folgenden Tagen mit dem Rest des Heeres zu Santinelli auf, ordnete die Truppen, und begann am 28. November seinen Angriff auf Coro, das der dortige Gouverneur José Ceballos mit 1000 Soldaten und vier Kanonen verteidigte. Die Nachricht, daß die Reste der Verteidiger von Pedregal erheblich von den Soldaten aus Maracaibo verstärkt, sich von Westen näherten, ließ den Herzog die Attacke einstellen und mit Einbruch der Nacht zum Rückzug blasen. Unter weiteren Gefechten, die meist zugunsten der Patrioten ausgingen, zog sich das Heer der Junta von Caracas auf seinen Ausgangsort Siquisique zurück, wo es am 06. Dezember eintraf. Neben offenbar logistischen Schwierigkeiten der Patrioten, trug der besser funktionierende Nachschub der Corianer dazu bei, daß der Herzog im folgenden Jahr den Feldzug erfolglos abbrach.

Die Provinz Maracaibo, die sich im Gegensatz zum heutigen Bundesstaat Zulia über die Anden bis zum heutigen kolumbianischen Grenz-Departamento Arauca im Süden erstreckte, hatte mit Fernando einen strikt königstreuen Gouverneur Miyares, der die Junta von Caracas entschieden bekämpfte. Daher löste sich Mitte September eine neue Provinz aus Maracaibo: Merida. Die zwölfköpfige Junta von Merida, der Antonio Ignacio Rodriguez Picon vorstand, lehnte, ebenso wie Caracas, den Regentschaftsrat ab, stand jedoch zu Ferdinand. Ihr schlossen sich im Oktober weitere Städte und Gemeinden an, so daß die venezolanischen Anden komplett der Kontrolle der Königstreuen entzogen waren.

In Guayana, mehr oder weniger der heutige Bundesstaat Bolivar, folgten die dortigen Patrioten in der gleichnamigen Hauptstadt (G. la Vieja, heute Los Castillos) dem Beispiel von Caracas, aber weniger als ein Monat später, gewannen die Royalisten, die sich dem Regentschaftsrat unterstellten, die Oberhand, und, wie Maracaibo, blieb diese Provinz für viele Jahre königstreu.

In der Provinz Barinas, im Südwesten von Caracas, beschloß ein offener Rat die Juntabildung Anfang Mai. Nach der sich über Tage hinziehenden Wahl der aus zwölf Mitgliedern bestehenden Junta, unterstellte sich die Provinz Caracas. José Antonio Paez, der als Pächter von einem der Ratsherrn abhängig war, begann zum Ende des Jahres mit der Ausbildung von Reitern, da der royalistische Widerstand in der Provinz nicht mit der Wahl der Junta geendet hatte.

Neuandalusien, der Nordostteil Venezuelas, beziehungsweise die Hauptstadt Cumana, folgte dem Beispiel von Caracas noch im April. Eine aus acht Vertretern bestehende Junta wurde ins Leben gerufen, in die Teile der spanischen Autoritäten eingebunden waren. Unter der Junta nahmen die nun nicht mehr restriktierten Handelsbeziehungen zu den Engländern auf der nahegelegenen Insel Trinidad zu, wodurch der Wohlstand und damit die Zufriedenheit mit der neuen Provinzregierung wuchsen.

(Neu-)Barcelona weiter westlich an der Küste, berief ebenfalls eine Junta ein, und verhandelte die Loslösung von Cumana zugunsten einer eigenen Provinz. Da der dortige Vorsitzende jedoch den Regentschaftsrat anerkannte, kam es jedoch zu Mißstimmigkeiten, die einige Offiziere, unter ihnen der junge Unterleutnant José Antonio Anzoategui (nach der heutige Bundesstaat benannt ist) am 12. Oktober dazu veranlaßten, die Junta aufzulösen und eine neue, ausschließlich mit Patrioten besetzte Provinzregierung zu installieren. Diese bestand, mangels Personal nur aus fünf Mitgliedern, stand aber zu den Nachbarn im Osten und der Junta in der Hauptstadt.

Auf der Insel Margarita bildeten zehn Honoratioren Anfang Mai eine Junta, die sich an die von Caracas anlehnte.

Anfang Juni war von Caracas eine diplomatische Mission nach England aufgebrochen, der Simon Bolivar, Luis Lopez Mendez und Andres Bello angehörten. Da der englische König Georg III. selbst verfügt hatte, daß die Koalition gegen Napoleon wichtiger sei, als die jahrhundertealte Rivalität mit Spanien, konnten die Venezolaner im Juli keinen Erfolg haben, die englische Regierung zur Unterstützung ihres Befreiungskampfs zu gewinnen. Daher besannen sich die Gesandten auf Francisco Miranda, der seit seinen gescheiterten Landungsversuchen in seiner Heimat vor vier Jahren in London lebte. Den General der französischen Armee brachte Bolivar mit, damit er nun seine Heimat direkt unterstützen konnte. Bello blieb in London, wo er sich der riesigen Bibliothek Mirandas widmen konnte, und Lopez Mendez begann mit der Anwerbung von Söldnern für Venezuela. Allerdings kamen erst ab 1817 größere Mengen von Europäern nach Südamerika, um die Patrioten zu unterstützen.

Der spanische Regentschaftsrat, den die Junta von Caracas nicht anerkannte, kritisierte die englische Regierung wegen der Verhandlungen mit den Aufständischen, verhängte eine Seeblockade gegen die patriotisch regierten Landesteile von Venezuela, und ernannte mit Antonio Ignacio Cortabarria einen Regionalkommissar mit besonderen Vollmachten, der, falls die Diplomatie versagte, auch mit Waffengewalt gegen die Rebellen vorgehen sollte. Im Oktober befand er sich auf Puerto Rico, von wo aus er die Aktionen gegen die Junta von Caracas koordinierte. Die Seeblockade war weitgehend erfolgreich, aber mit seinem Schreiben an die Junta und die Bevölkerung erzielte er bis zum Jahresende keine nachhaltige Wirkung. Obwohl er dem Gouverneur von Guayana erste Angriffe auf die Patrioten nördlich des Orinoko aufgetragen hatte.



Fortsetzung: Kap. 4.b. Neugranada: lokale und regionale Erhebungen



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