Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

4. Tucacas

Die Inseln den Nationalparks Morrocoy

Auf dem Weg zum Frühstück in der Bäckerei sah ich eine bestimmt fünfzehn Zentimeter lange Kakerlake tot auf der Straße liegen. Auch, wenn davon auszugehen ist, dass in den Tropen diese Tiere größer sind, als in Mitteleuropa, so darf doch der Mangel an Hygiene, in Kombination mit der omnipräsenten Nachlässigkeit, als Grund für derart stattliche Exemplare gelten.

Mit Verspätung ging’s nach den vorbereitenden Einkäufen auf das Boot, das, weil ich der einzige reguläre Fahrgast war, mit der Familie vom Kapitän, das waren sechs Frauen und vier Männer, zunächst auf eine Insel gefahren ist, auf der keine Versorgungsstation war. Hier waren wenig Leute und es hat mir gut gefallen. Einer der Schiffsjungen ist auf eine Palme geklettert und hat Kokosnüsse geerntet. Mit dem Taschenmesser habe ich mir auch eine aufgeschnitten und den Saft getrunken. Die grünen seien süßer im Geschmack, als die gelben, hat er mir erklärt. Es handelt sich offenbar wirklich um zwei verschiedene Arten und nicht, wie ich zuerst vermutet hatte, um Reifestadien ein und derselben Art.

Die Fahrt im Fischerboot durch das grünblaue Wasser des Karibischen Meeres, das hier nicht sehr tief ist, verlief recht flott und der Fahrtwind war angenehm kühl. Allerdings habe ich mir vorher klargemacht, daß die intensive Sonneneinstrahlung, auch wenn sie weniger zu spüren war, meine Haut verbrennen würde. Meine Vorsichtsmaßnahmen erwiesen sich als sehr berechtigt. Es ging vorbei an Inseln, die zu betreten verboten war und in deren Mangrovendickicht und den dahinterstehenden Bäumen zahllose Vögel saßen. Hier konnte man den Eindruck eines Nationalparks gewinnen, der zum Schutz von Flora und Fauna dient. Auf der Touristeninsel später sollte sich das drastisch ändern.

Das von mir ausgewählte Eiland, die Cayo Sombrero, sollte das schönste sein. Schön ist es schon, der Palmenstrand war klasse, das Wasser glasklar, aber, wie auf dem Campingplatz – dicht gedrängt standen die Zelte unter den Palmen. Es waren mir einfach zu viele Leute, als daßß es mir hier hätte gefallen können und Rücksichtnahme kennt man hier einfach nicht. Das Meer war brühwarm und ich unterstelle zumindest den Kindern, dass sie willenlos ins Wasser pinkeln. Die Klohäuschen waren aber auch wirklich das Letzte. Es war zugegebenermaßen das Ende der Ferienzeit, daher war die Insel auch sicher in einem noch schlechteren Zustand, als sonst.

Wenn es einem gelingt, sich zwischen die Palmen zu legen, den Blick nach schräg oben zu richten und den Lärm der einheimischen Feriengäste auszublenden, erhält man einen schwachen Eindruck, wie schön es hier sein könnte. Dabei habe ich einen Pelikan am Himmel zwischen den Palmen entlang ziehen sehen.

Am Abend bin ich noch eine Weile in der Apsis des Zelts gesessen. Als sich vor mir etwas bewegte, habe ich die Taschenlampe benutzt, um zu sehen, was da so nah am Zelt vorbeihuschen wollte: ein Einsiedlerkrebs mit einem zehn Zentimeter hohen und unten genauso breiten Schneckenhaus. Als ich ihn anhob, sah ich nur die zirka fünf Zentimeter lange Schere des Krebses. Natürlich habe ich ihn ziehen lassen. Ob ihn nicht aber doch einige Kinder mit Taschenlampe und Sandeleimer erwischt haben, für den Kochtopf, weiß ich nicht.

Später frischte der Wind richtig auf und ich hörte Metal über den Walkman. Da die Rumflasche sich geöffnet hatte und ich nur die Hälfte zur Verfügung hatte, war ich gezwungen, für den nächsten Tag mit zu rationieren. Der Wind blies die ganze Zeit kräftig und plötzlich fiel mir ein Palmenast mit ausgedorrten Blättern vor die Füße, gekrümmt, war er bestimmt einsfünfzig lang. Ich dachte erst, es fiele ein Hund vom Himmel. Wegen der noch zusätzlich abgespreizten Palmblätter zeigte sich das Ding recht groß. Es war der größte Schreck, den ich auf der gesamten Reise erlebt habe.

Am nächsten Morgen haben mich zuerst die Kinder um halb sieben und dann die Strandflöhe geplagt. Von den letzteren saßen über hundert allein auf der Außenseite des Moskitonetzes des Zelts. Schnell ab ins Wasser, wo der Rest der Campergemeinde schon war. Die wußten, warum sie noch zwei Stunden im Wasser waren; trotz Mückenschutz sind immer noch ein paar dieser Viecher an mich dran. Und da es vorher auch schon ein paar waren, hatte ich, zusätzlich zum Sonnenbrand, die Beine kräftig zerstochen. Der Grund für diese Plage lag in der Tatsache, daß es windstill war. Wenn die am Meer übliche Briese weht, werden die Flöhe einfach weggeblasen und man hat bestenfalls gelegentlichen Kontakt mit ihnen. Zusammen mit den zu vielen Leuten hat mir das den Rest gegeben.

Da ich nun wußte, daß ich nicht mehr bleiben wollte, habe ich die Insel etwas erkundet, auch um nach Francisco, dem Bootsführer, Ausschau zu halten. Dabei hat mich ein Venezolaner angesprochen und in eine kurzweilige Konversation verwickelt. Die Schwester dessen, der mich ansprach, konnte, soweit ich das aus den wenigen Sätzen, die sie sprach, beurteilen konnte, recht gut Deutsch. Und ihr Freund stellte sich als Ungar heraus.

Als der Kapitän, nachdem ich einige Male die Insel abgeschritten hatte, ob ich nicht sein Boot sähe, mich begrüßte, habe ich sofort gefragt, ob er mich mit zurück nehmen würde. Klar, die Sonntagnachmittagfahrt war damit für ihn ausgefallen. Er war auf einer seiner regelmäßigen Touren zur Versorgung des teuren Kiosks in der Mitte der Insel, dem er Eis zum Kühlen und Verkaufsgüter gebracht hatte.

Die Rückfahrt war wieder gut und dabei war es fast unerheblich, dass ich der einzige Fahrgast war. Wieder sah ich viele Vögel, besonders auf einer der geschützten Inseln. Ich bin am Bug gestanden und habe die relative Ruhe genossen, der Bootsmotor war natürlich nicht sehr leise. So war ich fast enttäuscht, als nach fast zwei Stunden die Anlegestelle im hier bei weitem nicht so sauberen und klaren Wasser wieder vor mir auftauchte.

Tucacas

Norbert – er hatte gerade noch ein Zimmer für mich – wollte natürlich wissen, warum ich frühzeitig der Insel den Rücken gekehrt hatte. Später habe ich zweimal vergeblich den Geldautomaten bemüht, bis Norbert, der beim zweiten Mal mit dabei war, aber auch keine Erklärung für das Versagen des Automaten hatte, mich in den Laden eines Palästinensers führte, wo ich hier einen Reisescheck einlösen konnte. Die Bedingungen waren nicht besonders gut, aber, um überhaupt Geld zu haben, mußte ich darauf eingehen.

Nach dem Abendessen habe ich mit dem Sohn des Capitan und dem anderen Bootsjungen Bier getrunken. Die gerade beginnende Dorffiesta wollte ich mir nicht unbedingt geben, wo ich doch gerade einige Stunden vorher einer Menschenansammlung entronnen war. Der Beginn der Live-Heimatmusik aus den überraschend großen Boxenwänden hat mich endgültig vertrieben.

Das Fahrrad stand immer noch auf dem Balkon des Hotels, wo ich es vor der Fahrt zur Sombrero-Insel abgestellt hatte. Da der Balkon von einer eisernen Gittertür gesichert war und das Zimmer nicht sehr geräumig, ließ ich es auch bis zu meiner Abfahrt da stehen.

Am Vormittag wollte ich nach dem Frühstück und dem Einkauf einer deutschen, aber in Venezuela hergestellten Salbe gegen Insektenbisse eine kalte Kokosnuss trinken – anstatt Bier. Gab’s aber nicht. Als Begründung nannte man mir im fünften oder sechsten Laden, den ich deswegen aufsuchte, sie seien zu teuer und man würde deswegen darauf sitzen bleiben.

Also Bier, bei Rafael, ein anderes Restaurant, der mich bereits am ersten Tag angesprochen hat – auf Englisch. Weil die Konversation mit dem Kellner recht gut war und langwierig dazu – hier hat man offensichtlich verstanden, daß man mit "Sich-um-die-Gäste-kümmern" den Umsatz erhöht –, bin ich gleich zum Mittagessen geblieben. Rafael war durch den Umgang mit ausländischen Touristen geprägt. Er wußte Dinge und hatte Umgangsformen, die ich sonst nicht bei Venezolanern festgestellt habe. Er hatte sich fast perfekt an seinen Beruf und seine Umgebung angepasst.

Siesta, aufräumen und zurück zu Rafael zum Abendessen. Das Essen war gut, wenn auch der Rotbarsch am Donnerstag nicht zu schlagen war. Am Abend bin ich noch mal über den Festplatz gelaufen und habe ein paar Bier getrunken. Da es mich aber genauwenig wie am Vortag begeistert hat, bin ich bald wieder zurück ins Hotel, um mir einen Plan für die weitere Vorgehensweise zurechtzulegen. Eigentlich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, zurück Richtung Barquisimeto mit dem Zug zu fahren und den Weg dort wieder aufzunehmen.

Nach dem Frühstück in der recht guten Bäckerei, bin ich zur Wechseltortur, die immer bestimmt eine Stunde dauerte, auf die Bank. Schecks konnte ich aber erst ab neun Uhr einlösen. Danach unternahm ich den langwierigen Versuch, auf der Post, die Eisenbahn anzurufen. Ich hatte jedoch Pech, kein Zug fuhr nach Südwesten, Richtung Chirvacoa. Zum Losfahren war es mir, der Hitze wegen, anschließend zu spät.

Ich habe Norbert eher zufällig in einer Imbissbude getroffen und er hat mich zu Teigtaschen mit Haifleisch und solchen mit Mantarochenfüllung überzeugt. War überraschend gut.

Nochmals im Nationalpark

Am Nachmittag noch mal, zum Sonderpreis, vermittelt von Norbert, raus in den Park; eine fast menschenleere Insel, aber leider zelten verboten. Auf dem Inselrundgang fand ich junge, schwarze Krebse. Sie liefen in Massen über den Weg durch den Mangrovenwald. Am Ende des Weges gab’s noch mal etwas Strand. Hauptsächlich mehr oder weniger große Steine, die vom Wasser gerundet waren. Auf der Nachbarinsel sah ich einen Badestrand. Davor lag ein Passagierschiffswrack. Auf der Rückfahrt überraschte uns der Regen, die Fahrt war aber trotzdem ganz gut. Nach dem Wechseln der durchnässten Kleider, bin ich wieder zu Rafael zum Essen. Regen gibt es, wie ich fast immer auf der gesamten Reise erfahren habe, um die selbe Tageszeit. In Tucacas ist das etwa um vier oder halb fünf am späten Nachmittag.

Zwischenzeitlich ging ich kurz zurück im Hotel, um mir eine Zigarre zu holen. Auf dem Weg die Hotelrechnung bezahlt; ich war froh, vorher den Preis mit Norbert abgeklärt zu haben, weil der Portier einfach zu blöd war. Die andere Alternative wäre nämlich gewesen, daß der Rezeptionist in die eigene Tasche wirtschaftet. Norbert, den ich darauf ansprach, meinte, der Rezeptionist sei bald fällig, wenn er so weitermacht. Offensichtlich war das nicht der erste Fall dieser Art, den er sich geleistet hat.

Zurück bei Rafael, habe ich Francisco, el Capitan, der offensichtlich zu seiner abschließenden Kneipentour unterwegs war, noch ein Bier spendiert und mit ihm über seine Hauptbeschäftigung, Fischen, geredet. Mit Touristen hatte er dabei offenbar schlechte Erfahrungen gemacht. Morgens um vier fährt er hinaus, viel weiter, als zu den Inseln und die Touristen, berichtete er, wären noch vom Vorabend angetrunken und der Wellengang würde sie seekrank machen.

Später, als Francisco gegangen war, hat mich ein ziemlich mafios aussehender Mann an seinen Tisch gebeten. Zu diesem Eindruck trug, neben dem rasierten Schädel, die auch für Venezolaner große Masse an Goldschmuck bei, den er zu seinem hellen Anzug und dem dunklen Hemd trug. Wir haben uns deswegen ausgezeichnet unterhalten, weil er eine Universität für ein paar Jahre von innen gesehen hat. Mafia hin oder her, das Gespräch war erfrischend. Er hat mir seine Karte gegeben, Elektronikmaterialgroßhändler. Als Rafael seinen Fisch abräumte, sagte der Mann, daß er zum ersten mal einem Fisch ganz gegessen hätte – ich erinnerte mich mit Grausen, daß er auch die Augen gegessen hatte –, was eindeutig an dem anregenden Gespräch gelegen habe, das wir führten. Norbert hatte mich allerdings vorgewarnt, daß in dieser Kneipe manchmal gefährliche Gäste seien. Gegen Rafael hatte er jedoch nichts. Natürlich passierte nichts, als ich mich von ihm verabschiedete und zurück ins Hotel ging, um für die Fahrt am nächsten Tag ausgeruht zu sein.

Weiter durchs Küstengebirge

Den Umweg über die Straße nach San Juan machte ich, weil Norbert mich unbedingt sicher in Mirimire sehen wollte. Ich bin um sieben losgefahren und weil die Geschäfte erst gegen acht öffnen, habe ich erst in Sanare gefrühstückt. Über die meist ebene Straße bin ich zurück zur Küste und dieser gefolgt. Die Straße war tatsächlich schön verkehrsarm, allerdings stank dafür streckenweise das Meer und Bäume waren Mangelware. Da ich nicht wußte, wo hinter San Juan Übernachtungsmöglichkeiten waren, habe ich hier Halt gemacht.

Der Portugiese, der es führt, machte, wie das Hotel, einen guten und sauberen Eindruck, vor allem bei siebenunddreißig Mark die Nacht, mit Klimaanlage. Nach der Ankunft bin ich durch den Ort gelaufen, einerseits, um Vorräte zu ergänzen, andererseits, um mir einen Eindruck von den verschlafenen Fischerdorf zu verschaffen. Ein ruhiges Nest ohne Luxus, scheint während der Saison aber durchaus regelmäßig von Touristen besucht zu sein. Darauf ließ zumindest die ansatzweise vorhandene Infrastruktur schließen.

Das Abendessen wurde mir durch die Mosquitos vergällt, so dass ich kurz zum Mückenschutzmittel zurück ins Hotel musste. In diesem Restaurant hing eine Namensliste mit Bolivaresbeträgen dahinter. Ich hielt es zuerst für ein lokales Spiel. Nach meiner Rückkehr habe ich mit zwei einheimischen Jungen geredet. Dem älteren glaubte ich wohl, daß er knapp über zwanzig war, dem Jüngeren nahm ich seine sechzehn Jahre nicht ab; er war wohl eher dreizehn. Diese beiden konnten mir erklären, was es mit der Liste auf sich hatte. Es waren die von Wirt angeprangerten Schuldner, die hier öffentlich aushingen. Da nimmt es auch kaum Wunder, daß hinter dem Namen des "Spitzenreiters" ex-alcalde, also ehemaliger Bürgermeister, stand. Und in der oberen Tabellenhälfte waren es zum Teil einige Tausend Mark.

Als der Ältere längst gegangen war, stand ich noch mit dem Kleinen auf der Straße. Obwohl ich ihm eine Limonade ausgegeben hatte, versuchte er weiter zu schnorren, um an mehr Geld zu kommen. Ich gab ihm insgesamt drei Mark, aber es war erschreckend, wie viel Macht man über diese Leute mit etwas Geld gewinnt. Diese Erfahrung mußte ich im Lauf der Reise noch öfter machen.



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