Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

46. Trujillo

Anfahrt

Das Frühstück im Stehen in Don Josés tienda fiel ziemlich knapp aus, aber dafür war der Abschied, besonders von Jorge, sehr herzlich. In der kühlen Morgenluft ließ ich die Felder um den Ort trotz des Gegenwinds schnell hinter mir. Durch die Wüste fuhr ich etwa sechzehn Kilometer dem Küstengebirge entlang zur Zahlstation von Chicama. Nachdem ich diese ohne anzuhalten passiert hatte, erwartete mich ein ernstzunehmender Anstieg über eine Hügelkette, bis ich weitere fünfzehn Kilometer Wüste vor mir hatte.

Da mir der Ort El Milagro als gefährlich angekündigt worden war, verzichtete ich auf die eigentlich notwendige Pause, die ich aber bald danach in La Esperanza, das schon zu Trujillo gehört, nachholen konnte. Eine Hühnersuppe mit Nudeln gab mir erneut Kraft, um meinen Weg durch den streckenweise dichten Verkehr der immerhin eine Dreiviertelmillion Einwohner zählenden Hauptstadt des Departments La Libertad zu finden.

Eingewöhnung

Trotz des Stadtplans im Reiseführer brauchte ich eine Weile, um die Orientierung zu finden. Als ich endlich genau wußte, wo ich war, fand ich den Weg zum ausgewählten hostal schnell. Hier empfing mich Milagros, die Tochter von Willy, dem Besitzer. Weil der Manager einer großen US-Firma ebenfalls zufällig im Haus war, ließ er es sich nicht nehmen, selbst mit mir um den Preis für das recht gute Zimmer zu feilschen. Er begann über dem ausgehängten Preisniveau, was ich ihm sofort auf den Kopf zu sagte, weil ich den Aushang gesehen hatte. Nach einigem Ringen wurden wir uns schließlich einig und er half mir, Fahrrad und Gepäck in den ersten Stock, wo die Zimmer sind, zu schaffen. Er erklärte mir, daß das Hotel seine Altersversorgung darstellte und ich sah, daß es ursprünglich ein einfaches Wohnhaus war, das er immer wieder erweitert und umgebaut hatte, bis er schließlich darangegangen war, je nach Geldstand, weitere Stockwerke hochzuziehen.

Nachdem ich das Zimmer bezogen und geduscht hatte, hielt mich Milagros an der Rezeption eine Stunde lang bei einem nicht unangenehmen Gespräch über sie, die eigentlich Chemieingenieurin ist, aber keine Arbeit findet und daher im Hotel ihres Vaters arbeitet, meine Reise und die Verhältnisse in Trujillo fest. Als mich schließlich Hunger und Durst quälten, empfahl sie mir ein gutes Restaurant in der Nähe. Bei der Rückkehr nach dem Essen lief ich auf der Balustrade zu meinem Zimmer, um Siesta zu halten.

Die Zimmer im Parterre hatten Türen und Fenster, die in den unter mir verlaufenden Flur mündeten. Diese Räume wurden offenbar von den Familienangehörigen genutzt. Ich hörte Milagros Stimme, die einem anderen Mädchen erzählte, wie sehr sie von mir begeistert sei. Ich verlangsamte meinen Schritt, um besser zu hören, was sie sagte. Sie schwärmte geradezu von mir. Während ich mein Zimmer betrat, überlegte ich mir, daß ich das nicht so gut fände, weil ich beschlossen hatte, mich derartigen Aktivitäten zu enthalten. Und je begeisterter sie von mir war, desto schwieriger würde es, sie von mir abzubringen, ohne sie zu sehr zu verletzen.

Trujillo

Nach der Siesta machte ich einen ersten Spaziergang zum Zentrum, um mir einen Eindruck von der Stadt zu verschaffen. Hier fand ich viele Kolonialhäuser und Prachtbauten. Diego de Almagro hatte die Stadt bereits 1534 gegründet. Wenn auch von dieser frühen Periode nichts mehr übrig ist, gewann ich einen guten Eindruck von einer Stadtmitte, in der alte und neue Gebäude einigermaßen harmonisch nebeneinander eine Atmosphäre von Beschaulichkeit und Geschäftigkeit vermittelten. Außerhalb der den Ortskern umgebenden Ringstraße war mein Eindruck allerdings durchwachsen.

Alexander von Humboldt kam am 24.09. 1802, aus Cajamarca in Trujillo an und verbrachte zwei Wochen hier, bevor er entlang der Küste nach Lima weiterreiste. In der Stadt lebten nach seinen Erkenntnissen damals knapp sechstausend Einwohner. Das, was heute Altstadt ist, war damals schon seit über hundert Jahren von einer fast sechs Meter hohen Lehmmauer mit „Bastionen“ umgeben, „die gegen nichts schützen, als gegen den Sand“. Die ersten Versuche, dem Ort zu gepflasterten Straßen zu verhelfen, stammt aus dieser Zeit, wie Humboldt bemerkt, denn „die Straßen sind voll Sand, daß man bis zum Knie einsinkt“. Er sagt zwar: „Man muß an peruanische Städte gewöhnt sein, um eine Stadt wie Trujillo hübsch zu finden“, aber seine Beschreibung zeigt, daß er Trujillo nicht so übel fand, nur eben anders, als er es gewohnt war.

Als es dunkel wurde, setzte ich mich in ein im Reiseführer empfohlenes Restaurant, De Marco, das sich aber nur durch teure Einrichtung und hohe Preise auszeichnete. Immerhin fand ich Fernet Branca. Allerdings ein Lizenzprodukt aus Argentinien, wo sich viele Italiener und italienischstämmige Einwanderer aufhalten, das einerseits zu lange in dem Restaurant herumgestanden hatte und andererseits nicht ganz dem Mailänder Original zu entsprechen schien. Selbstredend war er viel zu teuer – selbst nach europäischen Maßstäben.

Kultur

Morgens bin ich etwas schwer aufgestanden und habe eine Bäckerei zum Frühstücken gesucht. Ich entschied mich, zuerst zum archäologischen Museum der Universität zu gehen. Das 1939 gegründete Museum befand sich erst seit 1995 in dem sehenwerten Kolonialhaus Risco aus dem siebzehnten Jahrhundert, in der nördlichen Altstadt. Nach einer geographischen Einführung, die aus der Darstellung der drei Naturräume costa, sierra und selva, also Küste, Gebirge und Urwald mit ihren Charakteristika bestand, folgte die Frühgeschichte, die hier 12000 Jahre zurückreicht.

Seminomadische Jäger und Sammler, die Küstenfischerei betrieben, bestimmten das Bild. Ab 5000 v.Chr. setzte der Ackerbau und damit die Seßhaftigkeit ein. In diesem, von der deutschen Bundesregierung gesponserten Abschnitt, wurde die Entwicklung des Feldbaus dargestellt und auf die daraus resultierenden Landschafts- und Klimaveränderungen hingewiesen. Daran schloß sich die lokale Ausprägung des Sechín-Chavín-Kults an, vertreten durch wenige Artefakte und mehr Beschreibungen und Modellen. Ähnlich ausgestattet folgten die Abteilungen Moche, Chimú und Inka. Der spanische Erläuterungstext sowie die Nachbildungen und Modelle trugen zwar viel zu meinen Verständnis der nördlichen Küstenkulturen über gut dreitausend Jahre bei, aber mir waren es eindeutig zu wenig Originalexponate, die ich zu sehen bekam. Südlich der Stadt fließt der Río Moche, nachdem die Kultur benannt ist. Die Chimú errichteten das nordwestlich gelegene Chan Chan, das zu seiner Zeit die größte Lehmziegelstadt der Neuen Welt war. Im letzten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts eroberten die Inkas die Nordküste und implementierten ihre Kultur. Den südöstlich gelegenen huacas, Tempeln, von Sonne und Mond war eine temporäre Ausstellung am Ende des Rundgangs gewidmet.

Nach dem Essen, wieder bei Charole’s, wo ich bereits am Vortag mittags gegessen hatte, kehrte ich ins Hotel zur Siesta zurück. Als ich mich gerade zum Ausgehen vorbereitete, klopfte es. Milagros elfjährige Tochter stand da und wollte zu mir ins Zimmer. Sie wolle es sich ansehen, sagte sie. Ich ließ sie herein, hielt aber die Tür offen. Sie stellte ein paar Fragen zu Fahrrad und Ausrüstung, die ich ihr bereitwillig beantwortete. Als sie mich fragte, ob ich nun ihr Zimmer sehen wolle, lehnte strikt ich ab, weil ich befürchtete, daß ihre Mutter dahintersteckte.

Später standen einige Kolonialhäuser auf dem Nachmittagsprogramm. Sie waren alle gut restauriert. In der Casa Uriquiaga fand ich eine Ausstellung mit präkolumbischen Keramiken, im Casa Obregoso wurde an den General, dem das Haus gehörte, erinnert. Viele der Häuser gehören heute Banken, was den freien Zugang erleichtert. Weil ich zufällig vorbeikam, habe ich mir beim Fremdenverkehrsamt einen Stadtplan schenken lassen und nach den Sehenswürdigkeiten der Stadt gefragt. Die Auskünfte über den nachfolgenden Weg Richtung Lima waren allerdings etwas dürftig, was Übernachtungsmöglichkeiten betraf. Genauso zufällig fand ich ein Internet, das ich sofort zur Berichterstattung in die Heimat nutzte.

Anschließend bin ich erneut im Zentrum Essen gegangen, ohne recht zufrieden zu sein. Mit ein paar Bieren aus der tienda beim Hotel, habe ich mich nach einem nicht sehr ausgedehnten Gespräch mit Milagros auf mein Zimmer zurückgezogen, um mich über die für den Tag anstehende Besichtigung von Chan Chan zu informieren.

Chan Chan

Nach den Frühstück fand ich einen Kleinbus nach Huanchaco, der mich am Abzweig nach Chan Chan, außerhalb der Stadt, rausließ. Von hier aus lief ich die etwa zwei Kilometer lange, staubige Piste zum Eingangsbereich der Anlage. Da am Weg bereits Lehmziegelpaläste waren, allerdings in schlechten Zustand und mit Spuren neuzeitlicher Nutzung, wie mich ein Blick ins Innere belehrte, wich ich vom Weg ab, um einen davon, Bandelier genannt, genauer zu untersuchen.

Plötzlich stand ein Polizist neben mir und forderte mich auf, zur Straße zurückzukehren. In einem kurzen Gespräch fand ich heraus, daß es zwar nicht verboten sei, diese Ruinen zu betreten, aber weil sich hier Menschen aus den Armenvierteln hierher verirrten und es bereits zu Überfällen gekommen war, wollte mich der Bulle lieber auf der Straße sehen, weil er da besser für meine Sicherheit garantieren könne. Aufgrund des schlechten Erhaltungszustands und den daraus resultierenden schlechten Möglichkeiten hier großartige Entdeckungen zu machen, tat ich ihm den Gefallen und lief auf der Straße zur Eintrittskartenbude.

Hier sprach mich ein Peruaner an, den ich bereits am Vortag im Hotel gesehen hatte. Er suchte Mitglieder für eine Führung. Sein Argument war, daß, wenn man zu fünft ginge, würde sich der Führer für den einzelnen erheblich verbilligen. Obwohl ich mich für gut informiert hielt, sagte ich ihm zu. Zehn Minuten später war die Gruppe komplett. Ein US-Amerikaner, der im Gegensatz zu den meisten seiner Landsleute ein gutes Spanisch sprach, ein ziemlich rotverbrannter Norweger, der im Lauf der Führung gelegentlich Übersetzungshilfe brauchte und Cesar, der Cusqueño (aus der Stadt Cusco), der mich angesprochen hatte, mit seinem Vetter, der seit zehn Jahren in Trujillo wohnte. Die Führerin war um die Dreißig und sah eher asiatisch, denn indianisch aus; ich vermutete, daß sie an der Universität studiert hatte, was sie später in einem Nebensatz bestätigte.

Ursprünglich erstreckte die ganze Stadt sich über etwa 28 Quadratkilometer. Heute ist nur noch die Hälfte erhalten, denn ein Teil liegt unter dem aktuellen Trujillo. Im Zentrum stehen neun Ciudadelas oder Palacios, an deren Reste vorbei ich zum einzig offiziell begehbaren gelangt war, der nach einem Schweizer Südamerikaforscher des neunzehnten Jahrhunderts, Johann Jakob Tschudi, Palacio Tschudi heißt. Ein anderer ist nach Max Uhle, dessen Wirken ich schon in Cuenca würdigen konnte, benannt. Chan Chan, was Sonne Sonne bedeutet, war die Hauptstadt des Reiches der Chimú, die zwischen 1000 und 1476 ihr Reich, das maximal vom ecuadorianischen Guayaquil im Norden, im Osten bis Cajamarca und im Süden bis Páramonga, gut 150 Kilometer nördlich von Lima, reichte. Während der Blütezeit im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert lebten hier zwischen fünfzig- und hunderttausend Menschen – womit Chan Chan zum damaligen Zeitpunkt die größte Stadt der Welt war, behauptet man nicht nur hier, in Unkenntnis der Tatsache, daß Hangchou in China 1270 über ein Million eine Einwohner hatte; auch Marco Polo bestätigt dies. In Europa oder Amerika jedoch, wahrscheinlich auch in Afrika, gab es wohl keine größere Stadt. In der unmittelbaren und in der weiteren Umgebung finden sich huacas, Tempelanlagen, die ebenfalls den Chimú zugeordnet werden. Die Palaststädte, die von neun bis zwölf Meter hohen Lehmziegelmauern umgeben sind, waren als autarke Einheiten in Stadtgefüge angelegt. Hier lebten Handwerker, Palastbedienstete, Priester und die Herrscher, wie die Archäologen aus erhaltenen Gebäuden schließen konnten. Ebenso fanden sich Reste von Bewässerungskanälen, die innerhalb der Palaststädte im geringen Umfang Landwirtschaft und die Wasserversorgung sicherten. Das Wasser kam von Bächen und Flüssen aus der Westkordillere. Um diese Paläste herum wohnten und arbeiteten Bauern, Fischer, Handwerker und Händler in ihren Lehmziegel- und Holzhäusern.

Natürlich hat es Humboldt sich nicht nehmen lassen, diese Ruinenstätte zu besuchen. Zu seiner Zeit waren sie jedoch noch ziemlich unerforscht. So konnte er die Namen der palacios, die sie heute tragen und die Funktionen, die ihnen heute zugeordnet werden nicht kennen. "Chanchan ist ein Labyrinth von Straßen, Plätzen ... in welchen man reitet und sich ohne Führer leicht verirrt. Alle Gebäude sind aus Erde, sogar der gewaltige Palast des Chimú, welchen das Volk hier den großen Chimbo nennt ... In einigen Gebäuden findet man die Erde mit kleinen Steinen vermischt, so daß das Ganze durch die regelmäßige Verteilung der Steine wie ein Mosaik aussieht. ... Man muß staunen daß diese Werke aus Erde der Rauhheit des Wetters haben widerstehen können ..."

Seine Einschätzung, daß es nur die schiere Masse sei, die den Ort interessant machte, weil man in ihnen nichts erkennen könne, hat sich aber als falsch herausgestellt. Da auch er auf Literatur angewisen war, ist das meiste, was er dazu in seinem Tagebuch schreibt, Ergebnis von Quellenstudium und weniger von eigenen Untersuchungen. Er zitiert auch die ersten Berichte über Grabräubertum im sechzehnten Jahrhundert und schreibt diesen "die verderblichsten Folgen für den Gewerbefleiß" zu, was er zu seiner Zeit ebenfalls erlebte. Er bezeichnet es als Aberglaube, daß sich ein Häuptling, der in der Nähe der Ruinen wohnte, mit der Begründung bedienen dürfe, wenn er in echter Not sei, aber den Fundort nie preisgeben könne. Wenn die echte Not eine Begründung ist, so gilt sie heute noch, wie Legionen von huaqueros [Grabräuber] in ganz Peru beweisen.

Der Palacio Tschudi ist der kleinste, aber besterhaltenste, weshalb ich beim Rundgang einige Archäologen bei der Arbeit beobachten konnte. Deren größte Schwierigkeiten bestehen neben den huaqueros, die durch soziale Schwierigkeiten zu ihrem Beruf gekommen sind, in den periodisch wiederkehrenden Starkregen des El Niño-Phänomens, das mindestens seit vierzehnhundert Jahren nachgewiesen ist. Von ursprünglich alle sechzig, bis heute nur noch zwölf Jahre, hatte sich die Frequenz geändert. Größere Zerstörungen an diesen Ruinen fanden in den Jahren 1925, 1961 und 1983 statt. Bei einem Gespräch, das ich viel später in den Anden Südperus führte, vermittelte man mir, daß es seit den Zerstörungen von 1983 Pläne gäbe, eine große Kuppel über dem Komplex zu errichten, um weitere klimabedingte Zerstörungen zu verhindern. Der nicht gerade billige Eintritt hätte das Geld dafür sicher bald eingebracht, aber die Korruptheit der Lokalpolitiker, die sich an diesen Einnahmen bereichern, verhinderte bisher eine Umsetzung. Diese kurzfristige Geldgier wird dazu führen, daß nachfolgende Generationen keine Einnahmen mehr aus der dann völlig zerstörten Stadt ziehen können. Selbst das Nationalheiligtum Machu Picchu, das von einer anderen Art der Erosion befallen ist, wird nicht mehr zu retten sein, wenn die Korruption nicht drastisch eingedämmt wird. Man wird auf die ungeheure Masse an präkolumbischen Ruinen in diesem Land bauen, die hier bereits bekannt sind und es werden sicher noch viele Neuentdeckungen hinzukommen. Im Lauf der Reise durch Peru gewann ich den Eindruck, daß Peru, bezogen auf die Fläche, mehr Ruinen besitzt, als das Burgenland Burgen hat. Wegen der Einzigartigkeit jedes Fundorts würde ich mir mehr Konservierung für jeden der Plätze wünschen.

Der teilweise rekonstruierte Palacio Tschudi begann für die Führung mit einem großen Zeremonienplatz, in dessen Mitte ein Podest steht, das je nach Interpretation, der Platz des Herrschers war oder als eine Art Altar diente. Wenn dieser größte Platz, wie andere Deutungen nahelegen, ein Marktplatz war, wozu bedurfte es dann eines zentralen Podestes? An den Wänden ringsum befanden sich Reliefziegel mit Pelikanen, Nutrias und Fischen. Durch einen langen schmalen Gang, dessen Wände ebenfalls verziert waren, gelangte die Gruppe, die die Führerin immer wieder mit Fragen zu detaillierteren Darstellungen zum Zweck der Anlage nötigte, zu einem kleineren Zeremonialplatz, dessen Sinn mir allerdings verborgen blieb. Über eine Treppe ereichten wir einen Raum, der als Gebetshalle genutzt worden sein soll. Andere Interpretationen sehen darin eher einen Lager- oder möglicherweise einen Verwaltungsraum. Dafür sprächen die umliegenden kleineren Räume, in denen Schreiber beziehungsweise Verwaltungsbeamte gesessen haben könnten. Der ich daran anschließende Platz könnte wirklich zu religiösen Zwecken gedient haben, aber genausogut der Thronsaal gewesen sein.

Sicher hingegen war der große Raum, der folgte, eine Zisterne, worin sich Totora-Schilf befand. Die Erklärung, der Führerin, daß das Wasser wenigstens teilweise durch den Sand entsalztes Meerwasser wäre, wies ich allerdings zurück: Meerwasserentsalzung ist ein chemischer Vorgang, den Sandkörner, die physikalisch filtern, nicht leisten können. Richtig ist, daß mittels des zugeführten Andenwassers der Grundwasserspiegel angehoben wurde, um immer über ausreichend Wasser zu verfügen. Die Inkas, konnten die Stadt 1471 nach elf Jahren Belagerung nur deswegen einnehmen, weil sie den Chimú die Kanäle, die das Wasser von den Anden herleiteten, zu unterbrechen drohten, womit ihre reiche Landwirtschaft zugrunde gegangen wäre.

Beim nächsten Raum tauchten wieder Interpretationsschwierigkeiten auf: Waren die stabilen Räume Grabkammern oder Gefängniszellen? Weil bereits die Spanier mit dem Ausräumen begonnen hatten, gibt es keine Hinweise darauf, was sich ursprünglich in den Kammern befunden hatte. Bei der Rigidität der kriegerischen Chimú erscheint mir ersteres wahrscheinlicher; Verbrecher wurden verstümmelt oder hingerichtet. Nach einem Blick auf die Kasernen stellte der letzte Raum wieder alle vor ein Rätsel. Die vierundzwanzig Nischen könnten zur Aufstellung von Götterbildern gedient haben, aber die außergewöhnliche Akustik und die Sitzblöcke lassen auch andere Deutungen, wie beispielsweise einen Versammlungsplatz oder eine Art Theater zu. Zum Abschluß der Führung stiegen wir außerhalb des Palacios auf einen Holzturm, um uns das was von der Gesamtanlage übrig war, anzusehen. Dabei kamen wir auch auf den Hafen zu sprechen, den es zweifelsfrei gegeben haben mußte, um den Handel der Chimú zu gewährleisten. Die Führerin zeigte uns seine vermutete Lage.

Nachdem wir die Führerin bezahlt und uns verabschiedet hatten, ist die Gruppe noch zusammengeblieben, um gemeinsan das Museum in der Nähe der Straße zu besuchen. Hier gab es mehr Modelle und Rekonstruktionen, die das tägliche Leben der Bewohner darstellten, als eigentliche Artefakte. Immerhin war das Gesamtmodell der Stadt, etwa acht mal zehn Meter groß, recht beeindruckend. Von einem Balkon aus sah man in eine kleine Halle, die fast ausschließlich das Modell von Chan Chan in der Blütezeit enthielt. Die an die Wand projizierten Dias und der Erklärungstext vom Tonband überzeugten mich allerdings weniger.

Vor dem Museum trennte sich die Gruppe, weil der US-Amerikaner und der Norweger unbedingt nach Huanchaco an den Strand wollten, was für mich deswegen nicht in Frage kam, weil ich sowieso, nachdem ich Trujillo abgeschlossen hatte, dort einige Tage auszuruhen gedachte. Da sich der Vormittag dem Ende zuneigte und es Zeit zum Mittagessen wurde, schlug ich Cesar und seinem Cousin Charole’s fürs Mittagessen vor. Sie waren von dem Essen dort genauso begeistert, wie ich. Danach entschloß man sich zur Siesta.

Die Privatsammlung

Wie verabredet, traf ich mich nachher mit Cesar, um das Museo Casinelli zu besuchen. Nach dem kurzen Fußmarsch zu der unansehnlichen Garage an einer Tankstelle, bin ich allein in den Keller gestiegen, weil Cesar offenbar nicht bereit war, gut drei Mark Eintritt dafür zu bezahlen. Bereits der erste Blick zeigte mir, daß die Investition sich gelohnt hatte. Weniger, was die Präsentation der Stücke anlangte, als mehr deren Qualität. In rohen, mit Maschendraht überzogenen Holzregalen war nur ein Drittel der sechstausend Stücke der Öffentlichkeit zugänglich. Die Ausstellungsstücke der zwölf präkolumbischen Kulturen waren zu weit über neunzig Prozent Keramiken, nur eine kleine Glasvitrine enthielt wenig Schmuck und Werkzeug. Die größten Posten bildeten Keramiken von Moche und Chimú.

Der Wächter, der mich die ganze Zeit über beobachtete, konnte, nachdem er dazu aufgefordert worden war, eine ganze Menge Details zu den Kulturen, beziehungsweise zu deren Lebensstilen erzählen, aber auch zu den aktuellen Verhältnissen im Bezug auf die frühen Kunstschätze. Er erklärte mir, daß man aus den Trinkgefäßen, die hier ausgestellt waren, viel mehr über die Kultur lernen konnte, als aus dem Gold der Herrscher. Die Motive nach denen die Keramiken gestaltet waren, umfaßten Nutzpflanzen, wie Mais und Kartoffeln, Tiere und die äußerst lebensnahe Physiognomie der einstigen Besitzer der Gefäße.

Ich fand hier all das, was ich im Museum der Universität und in dem von Chan Chan eigentlich erwartet hätte. Insofern scheint mir dieses Museum als notwendige Ergänzung der Vorgenannten. Die schwache Präsentation erklärte der Wachmann damit, daß die korrupte Regierung nicht bereit sei, der Sammlung einen würdigen Rahmen zu subventionieren. Er kam auch auf den Kunstraub und -schmuggel zu sprechen. Dabei erwähnte er auch, nachdem er mich gefragt hatte, woher ich käme, ein Museum in München, in dem peruanische Kulturgüter ausgestellt wären, die illegal nach Deutschland verbracht worden seien. Der italienischstämmige Unternehmer Casinelli, dem die Sammlung gehört, hat sicher die besseren Stücke aus Edelmetall privat bei sich stehen; außerdem mußte er ja selbst die Grabräuber bezahlt haben, um sich eine solche Sammlung anzulegen, die bestimmt nicht billig war. Dafür, daß er über der Eintritt den Unterhalt derselben finanziert, wäre es sicher möglich gewesen, einen besseren und attraktiveren Rahmen zu schaffen, der ihm auch höhere Einnahmen beschert hätte – auch ohne die öffentlichen Subventionen eines derart armen Landes. Das zeigt, daß er sich am Kunstraub, den er mitsubventioniert, auch noch persönlich bereichern wollte. Zumindest bei einigen Kulturen des alten Peru wurden inzwischen so viele Artefakte entdeckt, daß es durchaus kein Verlust ist, wenn nicht alle im Land verbleiben, sondern – legal natürlich – als Botschafter in anderen Ländern öffentlich gezeigt werden. Es sind weltweit die Privatsammler, die den kulturellen Ausverkauf, wie ich ihn besonders dramatisch in Ecuador beobachtet habe, zu verantworten haben. Der Wächter war offenbar nicht nur in den historischen Fakten geschult, sondern offenbar auch in Propaganda für seinen „armen“ Arbeitgeber, den er geschickt als Opfer darstellte.

Zum Abendessen bin ich trotz meiner schlechten Erfahrungen in die Altstadt gelaufen. Diesmal hatte ich aber Glück und fand per Zufall eines der besten italienischen Restaurants der gesamten Reise. Nach einer überragenden Pizza bin ich zurück ins Hotel, wo ich Cesar in der Empfangshalle getroffen habe. Nachdem wir im nahegelegenen Laden ein paar Bier gekauft hatten, brachte er mir ein Kartenspiel bei, das Milagros, die mit ihren Freundinnen am Nebentisch saß, gerade spielten. Den Umgang mit ihm empfand ich als recht angenehm, weil, wie er mir erklärte, Cusqueños an den Umgang mit Touristen gewöhnt seien. Was dies bedeutete, fand ich in einem viel negativeren Sinn heraus, als ich mich in Cusco aufhielt. Ich spielte zwar eine Weile mit Cesar, aber zu den Frauen wollte ich mich, Milagros wegen, nicht setzen. Er allerdings schon, denn er hatte ein Auge auf eine ihrer Freundinnen geworfen. Als er sie nach dem Kartenspiel überzeugte, mit ihm noch in ein Tanzlokal zu gehen, wurde es für mich Zeit, meine Tagebucheintragungen zu machen und den nächsten Tag mittels meiner Reiseführer vorzubereiten.



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