Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

53. San Mateo

Abschied von Lima - und Humboldt

Hier endete die Gemeinsamkeit mit der Reise Alexander von Humboldts. Am 24. Dezember 1802 reiste er mit dem Schiff über Guayaquil nach Acapulco. In Mexiko setzte er seine Forschungsreise fort, wo er ein weiteres Jahr zubrachte. Nach einer kurzen Rückkehr nach Kuba folgte er der Einladung des US-Präsidenten, einige Wochen an der Ostküste der USA zuzubringen. Auch wenn Humboldt immer etwas zu erforschen fand, war der Zweck des Besuches eher Ehrungen entgegenzunehmen und Reden zu halten. Am 3. August 1804 landete er nach fünfjähriger Reise in Bordeaux. Weil Frankreich zu dieser Zeit das größere naturwissenschaftliche Potiential hatte, blieb er die nächsten vierundzwanzig Jahre in Paris und veröffentlichte die Ergebnisse seiner Reise in fünfunddreißig Bänden.

Es gelang mir, planmäßig früh um sieben das Hotel zu verlassen und mich durch den morgendlichen Berufsverkehr durch die Altstadt auf die Autobahn zu begeben, die sich zu einer gut ausgebauten Landstraße wandelte, als ich die richtige Ausfahrt fand. Erst hier ließ der Verkehr merklich nach. Ich fuhr entlang des Río Rimac, der zwar etwa fünfzig Meter breit, aber sehr flach ist. Als die Straße sich verengte, wurde der Verkehr und vor allem die unkatalysierten Abgase der Autos und LKWs wieder schlimmer. Hinzu kam die Hitze der immer höher steigenden Sonne. Einige wilde Müllabladeplätze an der Straße trugen auch nicht zur Luftverbesserung bei. Etwa siebenhundert Höhenmeter sollte ich an diesem Tag überwinden. Die Straße war allerdings nur selten richtig steil, aber etwas wellig, weswegen ich sicher einige Streckenabschnitte zweimal hinauffahren mußte. An einer Tankstelle machte ich eine kurze Pause.

Chosica

Einige Kilometer vor dem etwa achthundertfünfzig Meter über dem Meer gelegenen Chosica, schloß sich mir ein einheimischer Radfahrer an. Weil die Strecke hier steiler war, kam keine richtige Unterhaltung zustande. In dem langestreckten Ort beschlossen wir, Mittag zu essen und José zeigte mir einen Küchenstand, wo wir uns zu einer Mahlzeit niederlassen konnten. Hier konnten wir uns besser unterhalten.

Da ich nach dem Essen beschlossen hatte, daß fünfzig Kilometer den Berg hoch für heute genug seien, konnte er mir eine gute Pension empfehlen. Ich mußte allerdings mit dem Wirt über den Preis verhandeln. Das Haus schien frisch umgebaut zu sein und das Zimmer machte einen guten Eindruck, auch, wenn es zur Straße hinaus war. Da die Hauptstraße einen Häuserblock entfernt war, war es auch recht ruhig. Nachdem ich geduscht hatte, kam der Besitzer selbst, um sofort das Bad zu desinfizieren und zu reinigen, wohl damit es möglichst lange einen so neuen Eindruck machte und er noch lange mit seinen Gästen erfolgreich über den nicht gerade billigen Preis von umgerechnet gut sechzehn Mark verhandeln konnte.

Nach der Siesta lief ich durch den recht ansehnlichen Ort und zeichnete abschließend in einer Kneipe einen Innenstadtplan, auf dem ich die Pension einzeichnete und gedachte, ein Restaurant, wenn ich denn ein gutes fände, dies ebenfalls festzuhalten. Leider hatte ich Pech. Obwohl ich eine ganze Weile suchte, wurde ich nicht fündig. Da sich auch José nicht mehr einfand, obwohl wir uns verabredet hatten, blieb ich an einem asiatischen Essenstand mit einigen Tischen und Stühlen unter einer Zeltplane an der Hauptstraße hängen. Meine Bedenken der Verträglichkeit des Essens erwiesen sich glücklicherweise als überflüssig. Zurück im Hotel, konnte ich in meinem Zimmer am Tisch die Tagebucheintragungen und die Planungen für die nächste Etappe machen. Der Wirt war allerdings wenig begeistert, weil ich nicht bei ihm im Restaurant gegessen hatte.

Als ich gegen halb acht morgens loswollte, ließ der Pensionswirt seinen Unwillen an mir aus, als er mich mit den Fahrrad auf der Schulter die längere Treppe zum Hinterausgang gehen ließ, anstatt mich zum Vorderausgang rauszulassen. Ich fuhr die steiler werdende Straße bergauf, als ich nach etwa einer halben Stunde auf José stieß, der mir sein Fernbleiben am Vorabend zu erklären versuchte. Mich interessierte jedoch mehr die Entfernung nach Cocachacra, die er allerdings zu kurz angab. Von Chosica sind es fast zwanzig Kilometer.

Koordinationsmängel

Nach etwa einer weiteren halben Stunde traf ich auf eine Zahlstation, in dessen Nähe auch Restaurants und mindestens eine Pension war. Kurz vor Cocachacra, das man mit Kokafeld übersetzen kann, machte ich in einer tienda Pause bei einem Bier und ein paar Salzkeksen. Nachdem ich noch einen Schokoladenriegel zu mir genommen hatte, fuhr ich noch eine gute Stunde bis Surco, das am Kilometerstein 58 liegt. Hier kehrte ich erneut ein. Ich brauchte über eine Stunde, um die nächsten zehn Kilometer auf der steilen Straße zu bewältigen. Ich war bereits ziemlich erschöpft, aber hier fand ich keine Rastmöglichkeit.

Beim Verschnaufen sah ich in die Reiseführer, die behaupteten, Matucana, das immerhin bereits 2389m über dem Meer liegt, nach vierundachtzig Kilometern erreicht sein würde. Das gab mir moralisch den Rest. Hätte ich gewußt, daß der Ort beim Kilometerstein 73 ist, hätte ich mich nach einer kurzen Pause noch gut eine halbe Stunde dorthin quälen können. Leider sah ich auch niemanden, den ich hätte fragen können. Außerdem sind solche erfragten Distanzen immer mit großen Fehlern behaftet, weil die Menschen hier einfach keine Ahnung haben, wieviele Kilometer sie in ihren seltenen Fahrten im Kleinbus zurücklegen. Also hielt ich einen vorbeifahrenden Kleinbus an. Der Fahrer bestand allerdings darauf, mich bis San Mateo mitzunehmen. Das hätte mich eigentlich stutzig machen müssen: wieso sollte ich unbedingt die nächste Etappe ins bereits 3200m hohe, und etwa fünfundzwanzig Kilometer weiter entfernte San Mateo mitmachen? Als ich sah, daß Matucana am Kilometerstein 73 liegt, erfaßte ich, daß der Fahrer auf der kurzen Strecke mit mir zu wenig verdient hätte, um den Aufenthalt, der beim Aufladen entstanden war, zu rechtfertigen.

An der Strecke war anfangs stark zerklüfteter Granit anstehend. Später Vulkanosedimente, kräftig durchgebraten. Leider habe ich nur vom Bus aus die besten Falten gesehen: aufrecht, dünnbankig und symmetrisch. Öffnungswinkel etwa fünfundvierzig Grad, da habe ich schon bedauert, nicht auf dem Rad zu sitzen. Das war etwa acht Kilometer hinter Matucana.

San Mateo

In San Mateo, das am Kilometerstein 96 liegt, machte ich mich auf die Suche nach einer Unterkunft. Am Ortseingang hatte ich zwei Hotels gesehen, also fuhr ich von dem kleinen Zentralplatz, auf dem der Kleinbus geendet hatte zurück, um mich dort einzumieten. Das Hotel Andino war ausgebucht und im danebenliegenden Las Americas war ebenfalls zuviel los, weil der Wirt einen unverschämten Preis machen konnte. Der Grund dafür lag bei den Straßenbauarbeiten im Ort, denn die Arbeiter brauchten Zimmer. Außerdem befinden sich einige Minen zum Erzabbau in der Nähe, was den Wirten nochmals sichere Auslastung garantierte. Ich fuhr also zurück zum Zentralplatz und fragte einige Einheimische, die mir einige Alternativen geben konnten. Da aber auch hier die Bauarbeiter sich breitgemacht hatten, blieb mir nichts übrig, als ein Zimmer mit Gemeinschaftsbad im Hinterhof eines zur Pension umfunktionierten Privathauses zu nehmen. Ich war deswegen nicht unglücklich, weil ich einerseits nur den halben Preis der beiden Hotels am Ortseingang zu bezahlen hatte, und weil der Wirt, Manuel, sehr freundlich und entgegenkommend war. Die Unterkunft, muß man allerdings gerechterweise feststellen, war sehr einfach. Die Dusche war wieder mit einer dieser lebensgefährlichen elektrischen Durchlauferhitzer am Duschkopf ausgestattet, aber Manuel hielt das Gemeinschaftsbad wenigstens sauber.

Nach Dusche und Siesta sah ich mir den Ort an. Ziemlich ländlich, obwohl hier eine der größten Wasserabfüllanlagen des Landes steht. Daher war ich überrascht und verärgert, daß ich eine anderthalb-Liter-Flasche erst nach längerem Suchen fand. Der Grund liegt natürlich auf der Hand. An den kleinen Drittelliterflaschen verdienen die Händler viel mehr, als an den großen Flaschen und die Einheimischen kauften sicher nicht ihr eigenes Wasser.

In einer tienda unterhielt mich mit der Wirtin. Sie bestand interessanterweise darauf, daß jetzt Winter sei. Unmöglich, hielt ich ihr entgegen. Da auf der Nordhalbkugel zu diesem Zeitpunkt Winter war, mußte hier Sommer sein. Ich entwickelte daraufhin die Theorie, daß es deswegen regnerisch und trübe sei, weil die übermäßige Sonneneinstrahlung an der Küste und im Urwald, wo zu diesem Zeitpunkt wirklich Sommer war, größere Verdunstung hervorrief und dieser Wasserdampf sich als Wolken in den Bergen verfing und für erhöhten Regenfall und daher für ein völlig untypisches Winterwetter sorgte. Der Rest des Jahres soll trocken sein, aber, wegen weniger Wolken, tagsüber wärmer und nachts richtig kalt. Auch hier fand ich heraus, regnete es immer zur selben Uhrzeit. Und es war kühl, elf bis zwölf Grad. Kein Vergleich zu den über dreißig Grad an der Küste!

Nach dem Abendessen, das besser war, als die Einrichtung der Schänke vermuten ließ, zog ich mich auf mein Zimmer zurück, um auf dem Bett mein Tagebuch zu führen und mir anzusehen, wie weit ich noch den Berg hochmußte.

Minentrip zur Höhenanpassung

Obwohl ich gerade an Fahrttagen meine Mineral- und Vitamintabletten, die ich in Maracaibo gekauft hatte, nahm, waren die über tausend Höhenmeter des Vortags anscheinend über meinen Magnesiumhaushalt gegangen. Ich erwachte in der Nacht mehrmals von heftigen Krämpfen in Schien- und Wadenbein. Daher beschloß ich, in San Mateo einen Tag Höhenanpassung zu betreiben. Meine in Südkolumbien und Ecuador erworbene Form hatte ich sicher entlang der Küste verloren, aber ich hatte den Eindruck, daß ich mich diesmal schneller auf die Höhe einstellen konnte.

Das Frühstück, das in Ermangelung von Milch mit Kokatee und statt Süßgebäck mit Reis und Gemüseeintopf mit Fleisch beginnen mußte, sollte von hier ab meistens so verlaufen. Man ißt hier offenbar drei mal am Tag warm – mehr oder weniger das gleiche. Der Kokatee, der natürlich nicht berauscht, trug zusätzlich zu meiner Höhenanpassung bei. Anschließend ging ich zu Manuel, um ihn nach Minen in der Umgebung zu befragen, die ich besuchen konnte. Offiziell ging natürlich nichts, aber wenn ich mich bei den zuständigen Geologen als Kollege zu erkennen gab, war ich überzeugt, Zugang zu erhalten. Manuel konnte mir eine Mine empfehlen, es war die größte der Umgebung, und sorgte am Zentralplatz dafür, daß der Fahrer mich da aus dem Kleinbus ließ, wo ich die besten Zugangsmöglichkeiten hatte. Da ich weder besonders früh aufgestanden war, noch sonderliche Eile an den Tag gelegt hatte, der Bus mit Verspätung zu der fast einstündigen Fahrt aufbrach, war ich erst gegen halb zwölf am Eingang der riesigen Yauliyacu-Mine, zumal ich noch eine Weile zu Fuß hatte gehen müssen.

Noch vom Bus aus hatte ich, auf dem Weg, der meine nächste Etappe werden sollte, das mineneigene Kraftwerk gesehen, das die ausgedehnte Anlage auf viertausendeinhundert Meter Höhe mit Energie versorgte. Die Wächter behandelten mich zwar mit Respekt, aber ihre Versuche, einen Geologen aufzutreiben, zogen sich hin. Schließlich ging einer der beiden mit mir in die angeschlossene Arbeitersiedlung und führte mich in die Kantine. Nach dem Essen könne ich zu den Gebäuden gehen, in denen die Geologen untergebracht waren. Dazu erhielt ich einen Besucherausweis. Nach dem billigen, aber nicht schlechten Essen, wartete ich eine Weile vor dem unvermeidlichen Fernseher, der aber wenigstens eine Discovery-Sendung brachte, bis es Zeit war, mich auf den unvermutet langen Weg zu den Geologen zu machen.

Vorbei an riesigen Schredder-und Aufbereitungsanlagen, die von Loren beliefert wurden, zwischen Verwaltungsgebäuden hindurch, fand ich mit der freundlichen Hilfe von Arbeitern, die ich auf dem Weg traf, die beiden relativ kleinen Häuser, in denen die Geologen untergebracht waren. Darin sah ich einige Männer und Frauen an Computern in einem großen Raum sitzen. Ich stellte mich beim ersten der vorbeikam, vor und wurde umgehend zum Chefgeologen Julio Bedoya gebracht. Der begrüßte mich und wir unterhielten uns zwanglos.

Er erzählte mir, daß er gerade dabei sei, Deutsch zu lernen und führte mir seine Fortschritte vor. Obwohl er eine, zumindest für peruanische Verhältnisse, solide Ausbildung genossen hatte, schenkte er mir einen Quarz mit der Begründung, daß Quarz Kraft gäbe, um den bevorstehenden Anstrengungen meiner Reise gewachsen zu sein. Ich glaubte zwar nicht daran, aber ich trug die aus mehreren bis zu fünf Zentimeter langen Kristallen bestehende Stufe von diesem Zeitpunkt an immer meiner Hosentasche. Ich gebe zu, daß ich zeitweise sogar vergessen hatte, aber geschadet hat’s mir nie. Dann begaben wir uns in eine Ecke des größeren Raums, in dem in zwei Glasschränken die Mineraliensammlung der Mine untergebracht war. Kalzitkristalle, Tetrahedrit, Bleiglanz, Zinkblende, Arsen- und Kupferminerale, Quarz und andere schöne Stücke bekam ich zu sehen. Es handelte sich, wie mir Julio erklärte, um hydrothermale Bildungen in den metamorphen Vulkanosedimenten, die sich entlang von Störungen entwickelt hatten. Hydrothermal bedeutet, daß heiße, mineralhaltige Wässer aus der Tiefe aufgestiegen waren und der Mineralgehalt beim Abkühlen ausgefallen war und auskristallisierte.

Wir unterhielten uns über die Minerale, die hier gefördert wurden, und deren Bildung, bis er mich einem der vier erfahrenen Geologen, die von vier jungen unterstützt werden, vorstellte. Pio, so hieß der Mann, verwickelte mich in ein langes Gespräch über die Struktur der Erdkruste an dieser Stelle, weil dies mein Spezialgebiet gewesen war. Obwohl ich schon seit Jahren keine strukturgeologische Karte mehr interpretiert hatte, sah ich auf den ersten Blick, wie das Gelände hier aufgebaut war. Noch während Pio mir zu erklären versuchte, was ich auf der Karte sah, machte ich mit meiner Hand etwas gedankenverloren die Mulde nach, die ich auf der Karte sah. Er brach sofort ab und ich sah ihm an, daß er beeindruckt war.

Die in zehn Jahren von den Geologen erstellte Karte zeigte mir Klüfte, die in Zusammenhang mit der Faltung standen und spätere linksseitige Seitenverschiebungen mit steilem Einfallen, die die ersten Klüfte durchschlugen und versetzten. Die metamorphen sandigen Sedimente wiesen auf eine Bildung als Strand hin, zumal ihr oberer Abschluß ein Konglomerathorizont war, wie er typisch für eine schnelle Überflutung ist. Diese Schichten aus der Kreidezeit wurden von alttertiären Vulkaniten überlagert. Die Sequenz zeigt eindrucksvoll den Beginn der Subduktion an. Da die Schichten unterschiedlich hart sind, waren die Störungen auf einen Punkt zu gebündelt. Diese Struktur hatte ich noch nie im Kartenmaßstab gesehen, nur in Handstücken. Schließlich hatte eine schwächere Faltung aus einer anderen Richtung für typische Überfaltungsmuster gesorgt. Ich teilte meine Gedanken mit Pio, der mich sofort nach Lima schicken wollte, damit ich dort lehre. Erstens kam ich gerade aus Lima und zweitens erschien mir mein Spanisch für eine solche Aufgabe unzureichend.

Ich verbrachte mehr als zwei Stunden im Gespräch mit Pio und gelegentlich jüngeren Kollegen, die immer wieder von Julio abgedrängt wurden, damit sie ihre Aufgaben erfüllten. Ich beschloß daher, die Kollegen arbeiten zu lassen und mich zu verabschieden. Nicht ohne mich jedoch für den nächsten Tag zu einer Schachtbesichtigung anzumelden. Einer der jungen Geologen, Pablo de la Cruz, der auch am Samstag Dienst hatte, sollte mich am Nachmittag, wenn ich mit dem Fahrrad zur Mine hochgefahren war, in Empfang nehmen und durch die Stollen führen.

Zufrieden lief ich durch den Regen zurück zur Straße und konnte bald in einen Kleinbus steigen, der mich wieder nach San Mateo brachte. Hier stärkte ich mich zuerst in einer tienda, bevor ich zum Abendessen ging, Ich zog mich bald auf mein Zimmer zurück, um die nötigen Vorbereitungen für den nächsten Tag zu treffen und, damit ich für die harte Etappe ausgeruht war.



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